Es kommt, wie es kommt
aus: „Klinik Journal (01-2020) – Klinikum Brandenburg – Autorin: Marion Appelt“
Notarzt, Notfallsanitäter und Rettungsassistenten im Einsatz
Wie ein Leben ist nicht vorhersehbar, wie eine Schicht verläuft. Ebenso ungewiss ist der Ausgang eines Notfalleinsatzes, wenn es um Leben und Tod geht. Die Regionalleitstelle Brandenburg informiert den diensthabenden Notarzt des Klinikums über einen Pieper nur mit Eckdaten. Um Leben retten zu können, braucht es vor allem ein erfahrenes, gut eingespieltes Team, das schnell und flexibel reagiert und weiß, was zu tun ist.
Schichtwechsel
Die Tagschicht beginnt um 7 Uhr. Ein nasskalter Morgen Mitte Januar. Im Notarztzimmer der Rettungsstelle des Städtischen Klinikums schildern Notarzt Dr. Henrik Feldbinder und Rettungsassistent Marcel Streich die nächtlichen Vorkommnisse. In den letzten zwölf Stunden gab es drei Einsätze für das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF), ungewöhnlich wenig. 2019 hatten allein die Notärzte am Boden 3.744 Einsätze, im Rettungsdienstbereich insgesamt waren es 12.218.
Notarzteinsätze erfolgen nach dem Rendez-vous-Prinzip: Ein Rettungswagen mit einem Rettungssanitäter und einem Notfallsanitäter oder Rettungsassistenten von DRK, Johannitern oder Berufsfeuerwehr sowie eines der beiden Notarzteinsatzfahrzeuge des Klinikums – sie führen Notarzt und notfallmedizinische Ausrüstung heran – fahren zum Einsatzort. „Unsere Facharztquote ist hoch“, erklärt Dr. Martin Hochstatter, Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Brandenburg und Oberarzt am Klinikum. Er teilt die rund 30 Notärzte ein, meist Anästhesisten, darunter ehemalige Mitarbeiter, die an Wochenenden aushelfen. Hochstatter bildet heute mit Ronald Vogl von der Berufsfeuerwehr ein Team. Anwesend ist noch Michael Specker von den Johannitern. Er fährt mit Franziska Pfund, die als zweite Notärztin Bereitschaft hat. Sie verrichtet auf der Intensivstation Tätigkeiten, wo sie gut abkömmlich ist. Innerhalb von zwei Minuten muss sie im Notfall einsatzbereit sein.
Steigender Anspruch bei Patienten
Die Übergabe dient auch der Seelenhygiene. Kehren Bilder des Erlebten wieder, führen die Rettungskräfte Einsatznachgespräche mit Fachkräften. Heute ist es nur ein lockerer Austausch unter Männern, die sich gut kennen. Doch es hat sich etwas verändert. „Die Aggressivität gegenüber Helfern nimmt zu“, erzählt Ronald Vogl. Gestern mussten sie den Rettungswagen in einer Einfahrt parken. Ein Autofahrer fühlte sich provoziert, sie sollten „ihre Scheißkiste“ wegfahren, sonst rufe er die Polizei. „Fehlendes Verständnis frustriert und belastet“, ergänzt Michael Specker. „Im Vergleich zu anderen Regionen geht es uns hier recht gut“, fährt er fort. Für solche Situationen bietet das SEK Potsdam inzwischen Deeskalationstrainings an. Auch bei den Anlässen für den Notruf hat ein Wandel eingesetzt. Einem Herzpatienten der letzten Nacht schmerzten nach einer Bypassoperation die Narben. Mittlerweile waren fast vier Tage vergangen. „In der Zeit hätte er zum Hausarzt gehen können“, beurteilt Martin Hochstatter die Umstände. Eine gründliche Untersuchung und ein großes EKG ergaben keine Hinweise auf eine kardiologische Beteiligung. Ähnlich bei einem starken Raucher, der schlecht Luft bekam. „Das Anspruchsdenken allgemein ist gestiegen und wir sind immer verfügbar. Und durch Handys ist es möglich, jederzeit einen Notruf abzusetzen“, so der Ärztliche Leiter weiter. Andere Ursachen sind die Demografie und abnehmendes Wissen: Nur selten lebten mehrere Generationen zusammen, es gebe mehr Alleinerziehende und Ein-Personen-Haushalte.
Verantwortung und Fingerspitzengefühl
Mit Patienten werden dann ausführliche Gespräche geführt. Wie mit einem 31-Jährigen, der jede Woche mit Suizid droht. So auch letzte Nacht. Ihn kennt jeder. Manchmal sei Polizei erforderlich, wenn er aggressiv ist. „Dennoch dürfen wir seine Anrufe nicht auf die leichte Schulter nehmen“, betont Martin Hochstatter. „Wir sind verantwortlich und stellen Patienten Psychiatern vor, wenn wir mit Einfühlungsvermögen nicht weiterkommen.“
Der erste Einsatz
Gegen 09:30 der erste Alarm. Eine Bewohnerin eines Pflegeheims wurde bewusstseinsgemindert vom Pflegepersonal aufgefunden. Die Patientin ist dement, hat eine schwere Leberzirrhose und eine Niereninsuffienz. Sie ist nicht ansprechbar, atmet schwer. Notarzt Hochstatter überprüft ihre Reflexe. Keine Reaktion. Ronald Vogl überprüft gemeinsam mit der Besatzung des Rettungswagens standardmäßig die Vitalparameter – Temperatur, Sauerstoffsättigung, Blutzucker und macht ein kleines EKG. Über eine Maske bekommt die Patientin Sauerstoff. Ihr Zustand bleibt unverändert. Die Vermutung: ein schwerer Schlaganfall. Martin Hochstatter telefoniert mit dem Ehemann und erfährt, dass seine Frau keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht. Eine entsprechende Patientenverfügung gebe es, sie liegt dem Pflegeheim jedoch nicht vor. Also muss sie ins Klinikum gebracht werden, um sie palliativ zu versorgen.
Eile ist geboten
Nun muss es schnell gehen, um wieder einsatzbereit zu sein. Unterwegs schreibt der Notarzt den Bericht. In der Rettungsstelle wird die Patientin der Triage-Schwester zur Ersteinschätzung übergeben. Normalerweise werden Notfälle jetzt gründlich untersucht. Diensthabende Ärztin ist Dr. Jana Bathge. Nach Prüfung der vom Notarzt übermittelten Informationen und Gespräch mit den inzwischen eingetroffenen Angehörigen wird die von Hochstatter begonnene palliative Therapie weitergeführt.
Ähnliches Bild – anderer Verlauf
Fünf Minuten später der zweite Einsatz. Eine 90-Jährige liegt bewusstlos im Bett. Sie war nicht ans Telefon gegangen, weswegen ihre Schwester und der Schwager zu ihr gefahren sind und die Rettungskräfte verständigt haben. Auch diese Patientin ist nicht ansprechbar. Anders als die Heimbewohnerin reagiert sie aber auf Schmerzreiz. Ihre Angehörigen erzählen, dass sie am Vortag kollabiert und Diabetikerin ist. Die Blutzuckermessung ergibt einen Wert von 1,8 mmol/l – viel zu niedrig! Martin Hochstatter legt einen Zugang, um der Patientin Glucose und Kochsalz zu geben. Kurz darauf erwacht sie aus dem Zucker-Koma. Glück gehabt! Schwester und Schwager werden das Wichtigste für sie einpacken und ins Klinikum bringen, da ihr Zucker stationär neu eingestellt werden muss.
Es folgen zwei weitere Einsätze in größerem Abstand. Eine 85-Jährige hyperventiliert vor Aufregung, weil sie keine Schlaftabletten erhalten und vier Nächste nicht geschlafen hat. Martin Hochstatter nimmt sich Zeit, sie zu besänftigen, und gibt ihr ein Beruhigungsmittel. Eine Schülerin war nach einem Sturz kurz benommen. Sie bekommt einen Zugang und ein Schmerzmittel und wird ins Klinikum gebracht, um Verletzungen auszuschließen.
Es lohnt sich dranzubleiben
Der letzte Einsatz für Martin Hochstatter und Ronald Vogl soll der längste werden. Es ist 14:45 Uhr. Ein älterer Mann ist in einer Behörde im benachbarten Landkreis kollabiert. Die Notfallsanitäter des Rettungswagens und eine Auszubildende reanimieren ihn bereits, als Notarzt und Rettungsassistent eintreffen. Der Patient wird manuell beatmet, die Helfer wechseln sich bei der Herzdruckmassage ab, denn es kostet viel Kraft. Nach wie vor kein Puls. Der Mann hat einen Defibrillator und eine schwere Lungenerkrankung und ist adipös. Er braucht Adrenalin, damit sein Herz wieder schlägt. Die Rettungskräfte versuchen zweimal, einen Venenzugang zu legen. Erfolglos. Hochstatter wählt stattdessen den Weg über das Knochenmark im rechten Unterschenkel, um ihn mit Adrenalin, weiteren Medikamenten und Flüssigkeit zu versorgen. Dann intubiert er ihn. Fast eine halbe Stunde ist inzwischen vergangen. Zeit zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, weiter zu reanimieren. Martin Hochstatter überprüft noch einmal den Puls in der Leiste. „Er ist wieder da.“ Mehr muss er nicht sagen. Zwei Einsatzkräfte holen die Trage aus dem Rettungswagen, Patient und Defibrillator werden darauf sicher platziert. Mit Blaulicht geht es ins Klinikum, während Martin Hochstatter die Kollegen der Rettungsstelle und Intensivstation telefonisch vorinformiert. Auch dieser Patient hatte Glück, in so gute Hände zu geraten.